von Margit Huber, 7. Sep. 2015
Beim Anblick der gewaltigen Flüchtlingsströme überkommt mich das Gefühl der Ohnmacht. Die Diskussionen mit Menschen, die jedem Flüchtling sein Handy neiden, habe ich satt. Ich muss etwas tun. Also auf zum Hauptbahnhof, dort werden Menschen gebraucht. Dort angekommen überrascht mich die perfekte Organisation , die die Freiwilligen hier aufgezogen haben. Es gibt ein „Büro“, in dem man sich als Helfer registrieren lassen kann, eine Spendenannahme, ein Zelt für die Ausgabe der Kleiderspenden, einen Info-Point, eine Ecke, in der medizinische Hilfe geleistet wird, einen Stand, an dem Hygieneprodukte ausgegeben werden, einen großen Bereich, in dem Helfer die Flüchtlinge mit Essen und Trinken versorgen, eine Kinderspielecke und abgetrennte Ruhebereiche, in denen sich die Ankommenden vor Blicken geschützt ein wenig ausruhen können.
Ich werde eingeteilt für die Bahnsteig-betreuung. Heißt: Ich muss schauen, wann Züge aus dem Osten ankommen, zum entsprechenden Gleis gehen und dann
Flüchtlinge, die aus diesen Zügen kommen, empfangen, ihnen erklären, dass sie hier willkommen und in Sicherheit sind – und dass unten Kleidung, Essen, Trinken – kurzum ein großes Hilfsangebot auf
sie wartet und sie dorthin lotsen. Klingt ganz einfach. Die ersten erschöpften Flüchtlinge strömen aus dem Zug. Manche sind noch immer im Fluchtmodus und wollen gleich einen Zug nach „Alemania“
besteigen. Doch das geht nicht. Hier und jetzt fährt kein Zug nach München. Ich versuche ihnen klarzumachen, dass unten Hilfe auf sie wartet, sie erst einmal etwas essen und dann ihre Reise
fortsetzen können. Gar nicht so einfach, wenn man nicht dieselbe Sprache spricht. Einige, die aussteigen, fragen, wo sie sind. Sie haben in der Hektik der letzten Tage die Orientierung verloren.
Als sie erfahren, dass sie in Austria sind, nicht mehr in Hungary, steht ihnen die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Die meisten frieren entsetzlich, kommen mit Sandalen und kurzärmeligen
T-Shirts, manche husten, sind erkältet, haben Fieber.
Als ich sie zur Kleiderausgabe lotse, holen die jungen Männer zuerst Jacken für ihre Väter, Mütter und Frauen. Bringen sie ihnen. Erst danach kommen sie noch einmal und holen sich selber einen Pullover.
Eine junge Syrerin steigt aus dem Zug. Sie kann gebrochen Englisch und erzählt mir augenblicklich ihre schreckliche Fluchtgeschichte – zu Fuß monatelang über Berge gegangen, einen Fluss
durchschwommen, immer mit der Angst im Nacken, es nicht zu schaffen, zuerst keinen Schutz gegen die brennende Hitze, dann keinen Schutz gegen Kälte und Regen. Immer Hunger. Jetzt ist sie krank,
hat Fieber, Schweißausbrüche, zittert und friert. Also erst einmal eine warme Jacke und Schuhe holen, dann mit warmem Essen versorgen und zur medizinischen Betreuung begleiten. Sie fällt mir beim
Abschied um den Hals und weint vor Erleichterung.
Eine Gruppe junger Männer, die sich auf der Flucht kennen gelernt haben, fragen, was das Essen kostet und was eine Jacke. Als ich sage „free“ können sie es gar nicht glauben und sagen gefühlte
dreihundert Mal „thank you“. Ein alter Mann steigt aus dem Zug, frierend und offensichtlich ausgehungert. Ich besorge ihm eine Jacke und begleite ihn zur Essensausgabe. Er lehnt die Schüssel mit
Reis und Gemüse höflich ab. Ich biete sie ihm wieder an – und wieder. Beim dritten Mal nimmt er sie dankbar, murmelt „shukran“. Gut, dass ich ein wenig über arabische Höflichkeit Bescheid weiß.
Eine Gruppe sammelt sich, die zum Westbahnhof muss, um dann in einen Zug nach München zu steigen. Es ist unklar, wie sie dorthin kommen. Ah, die ÖBB schickt einen Sonderzug! Fein. Also alle zum
Bahnsteig hochdirigieren. Mist. Als meine Gruppe endlich oben ist, ist der Zug voll und fährt ohne sie ab. Verzweiflung. Ich versuche ihnen klar zu machen, dass wieder so ein Zug kommen wird,
„soon“. Wann? „Don’t know exactly.“ Na gut, die Enttäuschung steht ihnen in die Gesichter geschrieben, aber sie warten und bedanken sich für die dürftige Erklärung. Eine Stunde später steigen sie
dann in den nächsten Sonderzug und verabschieden sich mit einem Winken. Den ganzen Tag strömen Menschen auf mich zu und ich begleite sie ein paar Augenblicke durch ihre Leben. Mich überfluten
Gesichter und Geschichten. Am Abend bin ich so müde, dass ich einfach umfallen möchte. Zuhause im warmen Bett sehe ich sie immer noch auf mich zukommen, sobald ich die Augen schließe. Das Gefühl
der Ohnmacht aber ist weg.
Es sind noch keine Einträge vorhanden.